OLG München, Urteil vom 11.12.2024, Az. 7 U 4623/22
Die Klägerin war über viele Jahre als Handelsvertreterin für die Beklagte, ein Finanzdienstleistungsunternehmen, tätig. Der zugrunde liegende Vertrag, der sogenannte „Family B.-Vertrag“ (FBV), regelte die Zusammenarbeit zwischen den Parteien und wies der Klägerin die Funktion einer selbständigen Handelsvertreterin zu.
Nach der Entscheidung der Beklagten, ihr Privatkundengeschäft vollständig einzustellen, kündigte sie den Handelsvertretervertrag außerordentlich. Die Klägerin widersprach der Kündigung und machte insbesondere geltend, dass sie in Wahrheit nicht selbständig, sondern abhängig beschäftigt gewesen sei.
Nach ihrer Argumentation habe die Beklagte ihr gegenüber erhebliche Weisungsrechte ausgeübt, sie wirtschaftlich stark eingebunden und ihr kaum unternehmerische Freiheit gelassen. Sie habe faktisch ausschließlich für die Beklagte gearbeitet und sei in deren Organisationsstruktur eingebunden gewesen. Daher, so die Klägerin, habe es sich tatsächlich um ein Arbeitsverhältnis gehandelt. Nichtsdestotrotz hat die Klägerin vor dem Landgericht geklagt und neben einem Schadensersatzanspruch auch einen Ausgleichsanspruch nach § 89 b HGB geltend gemacht.
Die Beklagte widersprach dieser Darstellung und verwies auf die vertraglich vereinbarte Selbständigkeit sowie die unternehmerische Gestaltungsfreiheit der Klägerin.
Entscheidung des Gerichts
Das Oberlandesgericht München wies die Klage ab und stellte klar, dass die Klägerin nicht scheinselbständig war. Ausschlaggebend war eine umfassende Gesamtbetrachtung der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Vertragsverhältnisses.
Das Gericht stützte seine Entscheidung insbesondere auf folgende Erwägungen:
- Vertragliche Gestaltung des Handelsvertreterverhältnisses
Bereits die vertragliche Grundlage sprach für eine selbständige Tätigkeit der Klägerin:
In § 2.2 des Vertrags wurde ausdrücklich geregelt, dass die Klägerin als selbständige Handelsvertreterin nach §§ 84 ff. HGB tätig war.
- 2.3 des Vertrags stellte klar, dass sie ihre Arbeitszeit frei einteilen konnte.
Der Vertrag gestattete der Klägerin zudem, eigene Hilfskräfte einzusetzen (§ 4.1 FBV). Dies wäre in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis unüblich.
Es gab keine festen Arbeitszeiten, keinen Urlaubsanspruch und keine betriebliche Sozialversicherungspflicht.
Damit war die vertragliche Konstruktion eindeutig auf eine selbständige Tätigkeit ausgelegt.
- Tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses
Das Gericht betonte, dass nicht allein die vertragliche Bezeichnung maßgeblich sei, sondern insbesondere die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses. Auch hier ergab sich jedoch kein Hinweis auf eine Scheinselbständigkeit:
Arbeitszeit und Arbeitsort: Die Klägerin konnte ihren Arbeitsort selbst wählen. Tatsächlich hatte sie ein eigenes Büro angemietet, was gegen eine betriebliche Eingliederung spricht.
Unternehmerische Freiheit: Die Klägerin konnte entscheiden, welche Kunden sie akquirierte und wie sie ihre Tätigkeit organisierte.
Finanzielles Risiko: Sie trug unternehmerisches Risiko, indem sie in Werbung und Infrastruktur investierte.
Vergütung: Ihre Einnahmen waren ausschließlich provisionsbasiert, was typisch für eine Handelsvertretertätigkeit ist.
- Weisungsrechte der Beklagten
Die Klägerin argumentierte, dass sie durch Weisungen der Beklagten in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen sei. Das Gericht hielt jedoch fest, dass Weisungsrechte nicht per se eine abhängige Beschäftigung begründen:
Nach § 86a Abs. 1 HGB darf der Unternehmer dem Handelsvertreter bestimmte Verhaltensvorgaben machen, insbesondere um regulatorische oder aufsichtsrechtliche Pflichten einzuhalten.
Diese Weisungsrechte waren auf aufsichtsrechtliche Maßnahmen beschränkt und hatten keinen Einfluss auf die grundlegende unternehmerische Entscheidungsfreiheit der Klägerin.
Das Gericht verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach ein Handelsvertreter, der bestimmten aufsichtsrechtlichen oder vertraglichen Vorgaben unterliegt, dennoch selbständig sein kann (BGH, Urteil vom 15.12.1999 – 5 AZR 770/98).
- Einbindung in die Organisationsstruktur der Beklagten
Ein weiteres Argument der Klägerin war, dass sie in die Organisation der Beklagten eingebunden gewesen sei.
Das Gericht stellte hierzu klar, dass eine gewisse Einbindung für Handelsvertreter üblich ist und nicht automatisch zu einem Arbeitsverhältnis führt. Entscheidend sei, ob der Vertreter eigenverantwortlich handelt oder in betriebliche Abläufe eingegliedert ist.
Die Klägerin konnte eigenständig Kunden betreuen und Verträge vermitteln.
Sie durfte für andere Unternehmen tätig werden – auch wenn sie de facto fast ausschließlich für die Beklagte arbeitete, war dies keine zwingende Vorgabe des Vertrags.
Die Beklagte stellte zwar bestimmte Marketingmaterialien zur Verfügung, aber dies begründet keine Weisungsgebundenheit.
- Wirtschaftliche Abhängigkeit
Die Klägerin argumentierte, dass sie wirtschaftlich vollständig von der Beklagten abhängig gewesen sei.
Das Gericht stellte hierzu klar, dass wirtschaftliche Abhängigkeit kein hinreichendes Kriterium für ein Arbeitsverhältnis sei. Selbständige Handelsvertreter könnten durchaus stark von einem einzigen Unternehmen abhängig sein, ohne deshalb Arbeitnehmer zu sein.
Das Gesetz selbst geht in § 92a HGB davon aus, dass es Handelsvertreter geben kann, die nur für einen einzigen Prinzipal tätig sind – ohne dass dies automatisch zur Unselbständigkeit führt.
Praxisrelevanz
Die Entscheidung des OLG München hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Abgrenzung zwischen selbständigen Handelsvertretern und scheinselbständigen Arbeitnehmern. Das OLG München setzt sich eingehend mit den Voraussetzungen einer Scheinselbständigkeit auseinander und prüft geradezu schulmäßig, ob diese vorliegen.
Vertragliche Gestaltung ist wichtig, aber nicht allein entscheidend: Entscheidend ist die tatsächliche Umsetzung der Vereinbarung.
Weisungsrechte sind erlaubt, aber nur in begrenztem Rahmen: Regulierungs- oder aufsichtsrechtliche Vorgaben rechtfertigen keine Einstufung als Arbeitnehmer.
Finanzielles Risiko ist ein zentrales Kriterium: Handelsvertreter, die selbst in ihr Geschäft investieren, sind eher als selbständig einzustufen.
Einbindung in die Unternehmensstruktur ist nicht zwingend problematisch: Solange keine enge Weisungsgebundenheit besteht, bleibt die Selbständigkeit erhalten.
Unternehmen sollten daher darauf achten, dass ihre Verträge mit Handelsvertretern die unternehmerische Freiheit klar betonen und dass auch in der praktischen Umsetzung keine unzulässigen Weisungen erfolgen.
Handelsvertreter sollten sich bewusst sein, dass allein eine wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Auftraggeber nicht automatisch zu einem Arbeitsverhältnis führt.
Fazit
Das OLG München bestätigt einmal mehr, dass Handelsvertreter nicht scheinselbständig sind, wenn sie ihre Tätigkeit weitgehend frei gestalten können, auch wenn gewisse aufsichtsrechtliche Vorgaben existieren. Unternehmen sollten dies bei der Vertragsgestaltung beachten und Handelsvertreter sollten sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst sein.