Zur Substantiierungspflicht des Handelsvertreters, die die Stammkundeneigenschaft im Falle von Geschäften über langlebige Wirtschaftsgüter anbetrifft; ausgleichspflichtige Unternehmervorteile; Abwanderungsquote
VIII ZR 322/09 Versäumnisurteil verkündet am 17. November 2010 BGH AusgleichsanspruchBundesgerichtshof
Im Namen des Volkes
Versäumnisurteil
In dem Rechtsstreit
[…]
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. November 2010 durch […] für Recht erkannt:
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 16. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. April 2004 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 5. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Wuppertal vom 11. Dezember 2002 insoweit zurückgewiesen worden ist, als die Klage bezüglich des Anspruchs auf Handelsvertreterausgleich abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens und des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin war für die Beklagte aufgrund des Vertrags vom 27. Juli 1983 bis zur fristlosen Kündigung der Beklagten vom 18. Mai 2000 als Handelsvertreterin für Industrieböden tätig. Sie hat Zahlung von Provisionen in Höhe von 48.979,99 nebst Zinsen sowie einen Handelsvertreterausgleich in Höhe von 47.969,48 nebst Zinsen begehrt.
Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von Provisionen in Höhe von 2.480,19 verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels dahin abgeändert, dass die Beklagte zur Zahlung von Provisionen in Höhe von 3.153,17 nebst Zinsen verurteilt ist.
Mit der vom Senat beschränkt auf den Handelsvertreterausgleich zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin diesen Anspruch weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Über das Rechtsmittel ist antragsgemäß durch Versäumnisurteil zu entscheiden, da die Beklagte in der mündlichen Revisionsverhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vertreten war. Inhaltlich beruht das Urteil indessen nicht auf der Säumnis der Beklagten, sondern auf einer Sachprüfung (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 1962 – V ZR 110/60, BGHZ 37, 79, 81 ff.).
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:
Ein Ausgleichsanspruch stehe der Klägerin im Ergebnis nicht zu. Zwar habe sie ihn rechtzeitig in der Frist des § 89b Abs. 4 Satz 2 HBG angemeldet. Auch sei der Ausgleichsanspruch nicht wegen der fristlosen Kündigung der Beklagten vom 18. Mai 2000 nach § 89b Abs. 3 Nr. 2 HGB ausgeschlossen, weil ein wichtiger Grund zur Kündigung nicht vorgelegen habe und das Handelsvertreterverhältnis deshalb erst aufgrund der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung beendet worden sei. Der vertragliche Ausschluss des Ausgleichsanspruchs unter Ziffer 9 des Handelsvertretervertrages sei mit § 89b Abs. 4 Satz 1 HGB unvereinbar und deshalb unwirksam.
Der Anspruch auf Handelsvertreterausgleich sei aber deshalb unbegründet, weil der Vortrag der Klägerin zur Neukundenwerbung im entscheidenden Vertragsjahr (Mai 1999 bis April 2000) unschlüssig sei. Die Klägerin habe zwar insgesamt 17 Kunden aufgelistet, die sie nach ihrer Behauptung in diesem Zeitraum geworben habe. Es fehlten aber Angaben zu den konkreten Vermittlungshandlungen der Klägerin, die zu dem jeweiligen Vertragsschluss geführt hätten. Dies sei erforderlich, weil nach den Unterlagen der Beklagten Kunden teilweise durch ihre Mitarbeiter geworben worden seien. Lediglich bei drei Kunden sei unstreitig, dass die Klägerin sie geworben habe. Diese drei Kunden hätten nach dem Vortrag der Klägerin in der Vertragszeit mindestens ein Wiederholungsgeschäft getätigt, so dass sie grundsätzlich als Stammkunden anzusehen seien. Die mit diesen Stammkunden verdienten Provisionen beliefen sich aber auf lediglich 1.736,98 , was einem Anteil von nur 3,8 % am durchschnittlichen Jahresverdienst der Klägerin entspreche. Darüber hinaus habe die Klägerin nichts zur Kundenabwanderung in den letzten Vertragsjahren vorgetragen, so dass die zur Feststellung des Ausgleichsanspruchs notwendige Prognose nicht gestellt werden könne.
Die Berechnungen der Klägerin zu Folgeaufträgen seien – da es sich um den Vertrieb von Industriefußböden gehandelt habe – nicht realistisch. Die Klägerin habe es auch versäumt, nach Hauptaufträgen und Reparaturaufträgen zu differenzieren. Sie habe auch nicht dargelegt, dass sie überhaupt mit der Vermittlung von Reparaturaufträgen vertraglich betraut gewesen sei und dass diese als ausgleichspflichtige Folgeaufträge berücksichtigt werden könnten. Angesichts dieser Zweifel lasse sich die Berechtigung irgendeines Ausgleichsanspruchs nicht sicher feststellen.
II.
Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der Klägerin ein Anspruch auf Handelsvertreterausgleich nicht versagt werden. Das Berufungsgericht hat die an die Substantiierung der Voraussetzungen des § 89b HGB zu stellenden Anforderungen überspannt.
1. Im Ansatzpunkt zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass Grundlage der Berechnung des Ausgleichsanspruchs die im letzten Vertragsjahr auf Umsätze mit vom Handelsvertreter geworbenen Stammkunden (oder intensivierten Altkunden) entfallenden Provisionen sind.
a) Der Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB dient dem Zweck, die Unternehmervorteile und Provisionsverluste auszugleichen, die sich daraus ergeben, dass der Unternehmer voraussichtlich für einige Zeit noch Folgegeschäfte mit solchen Kunden (Stamm- oder Mehrfachkunden) abschließen wird, zu denen der inzwischen ausgeschiedene Handelsvertreter eine Geschäftsbeziehung hergestellt hat, der Handelsvertreter aber an dieser Spätwirkung seiner früheren Vermittlungstätigkeit nicht mehr in Form von Provisionen partizipiert. Als Stammkunden sind dabei diejenigen Kunden anzusehen, die in einem überschaubaren Zeitraum, in dem üblicherweise mit Nachbestellungen zu rechnen ist, mehr als nur ein Geschäft mit dem Unternehmer abgeschlossen haben oder voraussichtlich abschließen werden (Senatsurteile vom 6. August 1997 – VIII ZR 150/96, NJW 1998, 66 unter B I 1 a, und VIII ZR 92/96, NJW 1998, 71 unter B I 2 a; vom 12. September 2007 – VIII ZR 194/06, BB 2007, 2475 Rn. 36, sowie vom 17. Dezember 2008 – VIII ZR 159/07, VersR 2009, 355 Rn. 35). Dabei reicht es für die Annahme einer Geschäftsverbindung mit den vom Handelsvertreter geworbenen neuen Kunden aus, dass die Werbetätigkeit des Handelsvertreters zumindest mitursächlich gewesen ist (BGH, Urteil vom 25. Oktober 1984 – I ZR 104/82, NJW 1985, 859 unter II 1 b; Senatsurteil vom 6. August 1997 – VIII ZR 92/96, a.a.O. unter B I 2 e).
Der Handelsvertreter muss daher – wovon auch das Berufungsgericht im Ansatzpunkt zutreffend ausgeht – grundsätzlich darlegen, welcher Anteil seiner Provisionseinnahmen des letzten Vertragsjahres auf Folgegeschäfte mit von ihm geworbenen Stamm-/Mehrfachkunden entfällt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wird der Vortrag der Klägerin diesen Anforderungen jedoch gerecht.
b) Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 28. Mai 2003 für insgesamt 56 Kunden jeweils unter Beweisantritt vorgetragen, wann durch ihre Vermittlung erstmals ein Vertrag mit dem jeweiligen Kunden zustande gekommen sei und welche Folgegeschäfte der Kunde anschließend getätigt habe. Mit Schriftsatz vom 5. Januar 2004 hat sie im Einzelnen dargelegt, welche Umsätze sie mit den von ihr geworbenen Stammkunden im letzten Vertragsjahr getätigt habe; hierzu hat sie unter Vorlage der entsprechenden Provisionsabrechnungen der Beklagten aus der Liste der 56 Stammkunden 17 Kunden benannt, die im letzten Vertragsjahr Bestellungen vorgenommen hätten. Damit hat sie ihrer Darlegungslast genügt.
aa) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Vortrag der Klägerin zu den von ihr geworbenen Neukunden nicht deshalb unschlüssig, weil sie nicht näher vorgetragen hat, auf welche Weise sie die jeweiligen Kunden für die Beklagte gewonnen hat. Es ist insoweit auch nicht von Bedeutung, ob die von der Beklagten vorgelegten Unterlagen belegen, dass es Fälle gab, in welchen nicht die Klägerin, sondern die Beklagte die betreffenden Kunden geworben hat.
Eine Partei genügt ihrer Darlegungslast, wenn sie – wie hier mit dem Vortrag der Klägerin zu den von ihr geworbenen Stammkunden geschehen – Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Genügt der Vortrag diesen Anforderungen, können weitergehende Ausführungen, die die behaupteten Tatsachen wahrscheinlich machen, für die Schlüssigkeit nicht verlangt werden; es ist vielmehr Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten, um dort Zeugen oder Sachverständige nach Einzelheiten zu befragen (st. Rspr., z.B. BGH, Beschluss vom 21. Mai 2007 – II ZR 266/04, NJW-RR 2007, 1409 Rn. 8; Urteil vom 13. Juli 1998 – II ZR 131/97, VersR 1999, 1120 unter I). Das Berufungsgericht hätte deshalb die von den Parteien angebotenen Beweise zu der Behauptung der Klägerin erheben müssen, dass es sich bei den von ihr genannten 17 Kunden, mit denen sie im letzten Jahr Stammkundenumsätze getätigt haben will, um von ihr geworbene Neukunden gehandelt habe, weil der erste Vertrag zwischen dem jeweiligen Kunden und der Beklagten unter ursächlicher Mitwirkung der Klägerin zustande gekommen sei.
bb) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist der Vortrag der Klägerin zu Folgeaufträgen nicht deswegen „irreal“ und für die Bemessung des Ausgleichsanspruchs ohne Bedeutung, weil es sich bei dem Gegenstand des Handelsvertretervertrages um ein besonders langlebiges Produkt handelt. Zwar sind angesichts der langen Lebensdauer der von der Klägerin vertriebenen Industriefußböden – die Beklagte geht von rund 25 Jahren aus – Aufträge zur voll-ständigen Erneuerung typischerweise nur mit großem zeitlichen Abstand zu erwarten. Gleichwohl sind, wie die Revision zu Recht geltend macht, auch bei sehr langlebigen Produkten Folgeaufträge zu erwarten, zum Beispiel von expandierenden Unternehmen, die zusätzlichen Bedarf an Industriefußböden für Produktions- und Lagerflächen haben, oder für Reparaturaufträge, die entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ohne weiteres als ausgleichspflichtige Folgeaufträge zu berücksichtigen sind. Das Berufungsgericht geht selbst davon aus, dass nach dem Handelsvertretervertrag auch reine Reparaturaufträge (also nicht bloße Gewährleistungsarbeiten aufgrund mangelhafter Lieferung) provisionspflichtig waren; es handelt sich dabei um Nachbestellungen von Kunden, die während der Lebensdauer der bezogenen Produkte zur Behebung von Schäden gleichartiges Material benötigen. Auch derartige Reparaturaufträge sind Folgegeschäfte im Sinne des § 89b HGB, ohne dass es darauf ankommt, ob sie auf einer neuerlichen Vermittlungstätigkeit der Klägerin beruhen und ob diese auch mit der Vermittlung von „Reparaturaufträgen“ vertraglich ausdrücklich betraut gewesen ist.
2. Von Rechtsfehlern beeinflusst ist ferner die Auffassung des Berufungsgerichts, ein Ausgleichsanspruch der Klägerin scheitere auch daran, dass die Klägerin nichts zur Kundenabwanderung in den letzten Vertragsjahren vorgetragen habe und deshalb weder die Abwanderungsquote noch der zugrunde zu legende Prognosezeitraum schlüssig dargelegt sei.
Die Vorteile, die der Unternehmer durch den Abschluss von Geschäften mit dem vom Handelsvertreter neu geworbenen Kundenstamm erlangt, sind durch eine Umsatzprognose zu ermitteln, bei der das Gericht regelmäßig auf eine Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO angewiesen ist (BGH, Urteil vom 29. März 1990 – I ZR 2/89, NJW 1990, 2889 unter I 3 c). Dies gilt auch für die dabei zugrunde zu legende Abwanderungsquote, also den Anteil an Stammkunden (Mehrfachkunden), der nach Vertragsbeendigung jährlich abwandert. Maßgeblich für die auf den Zeitpunkt der Beendigung des Handelsvertretervertrages auszurichtende Schätzung der Abwanderungsquote sind vorrangig die konkreten Verhältnisse (Kundenbewegungen) während der Vertragszeit (Senatsurteil vom 10. Juli 2002 – VIII ZR 58/00, NJW-RR 2002, 1548 unter B III). Lässt sich die Abwanderungsquote mangels ausreichender Anhaltspunkte für die Kundenbewegungen während der Vertragszeit nicht konkret ermitteln, kann auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden (Senatsurteile vom 26. Februar 1997 – VIII ZR 272/95, NJW 1997, 1503 unter C II 2, sowie vom 10. Juli 2002 – VIII ZR 58/00 a.a.O.).
Die Klägerin hat sich für die Berechnung des von ihr verlangten Handelsvertreterausgleichs auf eine üblicherweise zugrunde gelegte Abwanderungsquote von 20 % jährlich bei einem Prognosezeitraum von 5 Jahren berufen und ferner vorgetragen, dass das durchschnittliche Nachbestellintervall ihrer Stammkunden rund 2 Jahre betragen habe; überdies hat sie für die von ihr geworbenen 56 Stammkunden die jeweiligen Umsätze während der gesamten Handelsvertretertätigkeit vorgetragen. Die Klägerin hat daher alles ihr Mögliche zu den konkreten Verhältnissen vorgetragen; soweit sich daraus keine tragfähigen Rückschlüsse auf eine konkrete Abwanderungsquote während der Vertragszeit ergeben, ist – wie ausgeführt – auf Erfahrungswerte zurückzugreifen und gegebenenfalls eine Schätzung zur Feststellung eines Ausgleichsmindestbetrages vorzunehmen. Mangels konkreter anderweitiger Erkenntnisse kann als Anhaltspunkt die üblicherweise zugrunde gelegte und hier auch von der Klägerin geltend gemachte Abwanderungsquote von 20 % dienen.
III.
Nach alledem kann das Berufungsurteil hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin auf Handelsvertreterausgleich keinen Bestand haben; es ist daher insoweit aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO), damit die erforderlichen Feststellungen zum Handelsvertreterausgleich getroffen werden können.