Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters im Wege der Teilklage

13 U 64/14 Urteil verkündet am 16. Juli 2015 OLG Stuttgart Ausgleichsanspruch

Oberlandesgericht Stuttgart
Im Namen des Volkes
Urteil

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Ulm vom 8. April 2014 – 10 O 122/13 KfH –

a u f g e h o b e n .

II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Landgericht Ulm

z u r ü c k v e r w i e s e n .

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 43.101,92 €

Entscheidungsgründe

1 Die Berufung der Klägerin ist zulässig und führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Ulm.

A.

2 Die Klägerin begehrt von der Beklagten nach Beendigung des mit der Beklagten am 01.03.1996 abgeschlossenen (Anlage K 1) und vom 01.01.1996 (für Zeitschriften über das Feuerwehr- und Rettungswesen) bzw. 01.04.1996 (für Zeitschriften über Uhren) bis 30.06.2010 bestehenden Handelsvertretervertrages einen Ausgleich gemäß § 89b HGB.

3 Die Beklagte ist ein sogenannter Special-Interest-Verlag, der zahlreiche Spezialzeitschriften herausgibt, unter anderem für Uhren und das Feuerwehr- und Rettungswesen.

4 Mit Schreiben vom 07.12.2009 erklärte die Beklagte, dass sie das Vertragsverhältnis mit der Klägerin fristlos kündige.

5 Durch Urteil des Landgerichts Ulm vom 31.05.2010 wurde festgestellt, dass der Handelsvertretervertrag der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 07.12.2009 nicht am 10.12.2009 beendet worden sei, sondern bis zum Ablauf des 30.06.2010 fortbestanden habe. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beklagte nicht nachgewiesen habe, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung des Handelsvertretervertrages bestehe. Dieses Urteil ist durch Rücknahme der Berufung der Beklagten rechtskräftig geworden.

6 Mit Anwaltsschreiben vom 12.08.2010 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten den Handelsvertreterausgleich gemäß § 89b HGB dem Grunde nach geltend (Anlage K 11, Bl. 56).

7 Durch Urteil des Landgerichts Ulm vom 31.07.2012 wurde die Beklagte – wie von der Klägerin nach Klagrücknahme in Höhe von 14.080,04 € zuletzt beantragt – verurteilt, an die Klägerin einen Handelsvertreterausgleich gemäß § 89b HGB in Höhe von 103.940,51 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 30.04.2011 zu zahlen. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung der Beklagten wurde durch Urteil des erkennenden Senats vom 21.03.2013 zurückgewiesen (Anlage K 13, im Folgenden: „Vorprozess“). Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Klägerin gegen die Beklagte nach dem im dortigen Verfahren zugrunde zu legenden Sachverhalt ein Handelsvertreterausgleichsanspruch in Höhe von 147.042,43 € zustehe, woraus folge, dass der (geringere) mit der Klage geltend gemachte Ausgleichsanspruch, den bereits das Landgericht Ulm im erstinstanzlichen Verfahren der Klägerin zugesprochen habe, tatsächlich geschuldet sei.

8 Im hier anhängigen Rechtsstreit begehrt die Klägerin nun von der Beklagten die Zahlung eines weiteren Teils des Handelsvertreterausgleichs in Höhe von 43.101,92 € nebst Verzugszinsen hieraus in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.12.2013 und beruft sich zur Begründung im Wesentlichen auf die im Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 21.03.2013 aufgeführte Berechnung.

9 Durch Urteil der 1. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Ulm vom 08.04.2014 wurde die Klage als unzulässig abgewiesen. Auf die tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils wird Bezug genommen.

10 Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie ihr erstinstanzliches Klagebegehren in vollem Umfang weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Sachvortrag. Die Klage sei entgegen der Auffassung des Landgerichts Ulm nicht unzulässig; insbesondere stehe die materielle Rechtskraft der im Vorprozess ergangenen Urteile der Erhebung dieser Klage nicht entgegen. Die Tatsachengrundlage für die Berechnung des Handelsvertreterausgleichsanspruchs sei bereits im Vorprozess umfassend vorgetragen und festgestellt worden. Nachdem im Vorprozess eine rechtskräftige Entscheidung ergangen sei und nun auf gleicher Tatsachengrundlage über den restlichen Handelsvertreterausgleichsanspruch zu entscheiden sei, bestehe nicht die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen. Rechtskräftig entschieden sei lediglich über den Teil des Handelsvertreterausgleichsanspruchs, den sie im Vorprozess beziffert habe, weshalb sie nicht daran gehindert sei, nun einen weiteren Teil des Handelsvertreterausgleichsanspruchs geltend zu machen. Im Übrigen habe sie entgegen der Auffassung der Beklagten im Vorprozess weder auf einen weiteren Teil des Handelsvertreterausgleichsanspruchs verzichtet noch sei Verwirkung eingetreten.

11 Die Klägerin beantragt:

12 Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Ulm vom 08.04.2014 (AZ: 10 O 122/13 KfH) wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 43.101,92 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.12.2013 zu zahlen.

13 Die Beklagte beantragt,

14 die Berufung zurückzuweisen,

15 hilfsweise den Rechtsstreit an das Landgericht Ulm zurückzuverweisen

16 und verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

B.

17 Die Berufung der Klägerin ist zulässig und führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Ulm gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 3 ZPO. Entgegen der Auffassung des Landgerichts Ulm ist die Klage zulässig. Ob der Klägerin gegen die Beklagte ein weiterer Handelsvertreterausgleichsanspruch in Höhe von 43.101,92 € gemäß § 89b HGB a.F. zusteht, ist offen und bedarf einer weiteren Beweisaufnahme, da die Feststellungen im Vorprozess für dieses Verfahren nicht bindend sind und der Sachvortrag der Parteien zur Frage des Prognosezeitraums sowie zur Frage der Billigkeit streitig ist. Dieser streitige Sachvortrag ist auch entscheidungserheblich, da die Klägerin im Vorprozess auf einen weiteren Teil des Handelsvertreterausgleichsanspruchs weder verzichtet hat noch insoweit Verwirkung eingetreten ist.

18 Auf den Rechtsstreit ist § 89b HGB in seiner alten Fassung anzuwenden (hierzu im Einzelnen OLG Stuttgart, Urteil vom 21.03.2013, Anlage K 13).

I.

19 Die Klage ist zulässig. Der Nachforderungsklage steht entgegen der Auffassung des Landgerichts Ulm der Einwand der Rechtskraft (§ 322 Abs. 1 ZPO) nicht entgegen.

1.

20 Entgegen der Auffassung des Landgerichts Ulm hat die Klägerin bereits im Vorprozess eine „offene Teilklage“ erhoben. Eine „offene Teilklage“ liegt vor, wenn ein Kläger für das Gericht und den Beklagten erkennbar zum Ausdruck bringt, dass ein bezifferter Antrag nur einen Teil des Anspruchs erfasst, so dass Nachforderungen vorbehalten bleiben. Im Gegensatz hierzu liegt eine „verdeckte Teilklage“ vor, wenn sich der Kläger hierzu nicht äußert (BGH NJW 1997, 3019).

21 Zutreffend hat das Landgericht Ulm zwar festgestellt, dass die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren des Vorprozesses nicht darauf hingewiesen habe, dass sie nur einen Teilbetrag geltend mache und dies für das Gericht und die Beklagte auch sonst nicht erkennbar gewesen sei. Nachdem das Landgericht Ulm im erstinstanzlichen Urteil des Vorprozesses einen höheren Handelsvertreterausgleichsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte errechnet hatte, ihr jedoch – gemäß § 308 Abs. 1 ZPO zutreffend – lediglich den geringeren mit der Klage geltend gemachten Anspruch zugesprochen hatte, führte die Klägerin in ihrer Berufungserwiderung aus, dass das Landgericht ihr einen Mindestbetrag zugesprochen habe. Somit hatte die Klägerin für das Gericht und die Beklagte erkennbar zum Ausdruck gebracht, dass ihr bezifferter Antrag – jedenfalls möglicherweise – nur einen Teil des tatsächlich bestehenden Anspruchs erfasst. Dies genügt jedoch für die Annahme einer „offenen Teilklage“; einer ausdrücklichen Erklärung, dass sich ein Kläger Nachforderungen vorbehalte, bedarf es dagegen nicht. Jedenfalls aber hatte die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren des Vorprozesses am 28.02.2013 unstreitig eine vergleichsweise Einigung über den gesamten Handelsvertreterausgleichsanspruch abgelehnt, nachdem der erkennende Senat im Termin zur mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht hatte, dass nach dem im Vorprozess zugrunde zu legenden Sachverhalt ein höherer Handelsvertreterausgleichsanspruch als erstinstanzlich zugesprochen geschuldet sei. Vielmehr hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung klar zum Ausdruck gebracht, dass sie nach den Rechtsausführungen des erkennenden Senats nicht bereit sei, auf diese Mehrforderung ganz oder teilweise zu verzichten, sondern dass sie diese in einem weiteren Verfahren klageweise geltend machen möchte. Auch hierdurch hatte die Klägerin vor Schluss der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren des Vorprozesses klar zum Ausdruck gebracht, dass sie lediglich eine „offene Teilklage“ erhoben habe.

2.

22 Ob die Klägerin gehalten gewesen wäre, bereits im erstinstanzlichen Verfahren des Vorprozesses für das Gericht und die Beklagte erkennbar zum Ausdruck zu bringen, dass ihr bezifferter Antrag nur einen Teil des Anspruchs erfasse, kann dahinstehen. Selbst wenn die Klägerin während des gesamten Vorprozesses lediglich eine „verdeckte Teilklage“ erhoben hätte, stände der Nachforderungsklage der Einwand der Rechtskraft (§ 322 Abs. 1 ZPO) nicht entgegen.

23 Da die materielle Rechtskraft eines Urteils gemäß § 322 Abs. 1 ZPO den durch die Klage erhobenen Anspruch betrifft, kann sie nicht über das prozessuale Begehren des Klägers hinausgehen, das den Streitgegenstand bestimmt. Ist ein bezifferter Klageantrag gestellt und über diesen entschieden worden, so erfasst die Rechtskraft den geltend gemachten Anspruch nur in dieser Höhe. Hat ein Kläger mit der im Klageantrag zum Ausdruck gebrachten Bezifferung nur einen Teil des Anspruchs geltend gemacht, so kann sich die Rechtskraft des Urteils nicht auf einen nicht eingeklagten Rest der Forderung erstrecken (BGHZ 135, 178; NJW 1997, 3019).

24 Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob der Kläger eine „offene“ oder eine „verdeckte“ Teilklage erhebt. Auch wenn der Kläger im Wege einer „verdeckten Teilklage“ vorgeht, erstreckt sich die Rechtskraft des Urteils nicht auf den nicht eingeklagten Rest eines teilbaren Anspruchs oder auf andere Ansprüche aus dem gleichen Sachverhalt, selbst wenn sich das Urteil darüber auslässt (BGHZ 135, 178; NJW 1997, 3019). Des Vorbehalts eines weitergehenden, nicht zum Streitgegenstand gemachten Anspruchs bedarf es nicht, da dieser – schon im Hinblick auf § 308 Abs. 1 ZPO – der Entscheidung des Gerichts nicht unterliegt (BGH NJW 1994, 3165; BGHZ 135, 178; NJW 1997, 3019; BGHZ 187, 227).

25 Ausgehend von diesen Grundsätzen wäre die Nachforderungsklage der Klägerin im hier anhängigen Rechtsstreit zulässig, auch wenn man von einer „verdeckten Teilklage“ im Vorprozess ausgeht.

3.

26 Die Rechtsprechung hat von diesem unter Ziffer I.2 dargestellten Grundsatz zwar Ausnahmen anerkannt. Diese Ausnahmen betrafen jedoch andere Fallkonstellationen, die mit dem hier zu entscheidenden Fall nicht vergleichbar sind, so dass es bei dem Grundsatz im hier zu entscheidenden Fall verbleibt, dass die Nachforderungsklage zulässig wäre, auch wenn man von einer „verdeckten Teilklage“ im Vorprozess ausgeht.

a)

27 Durch Urteil vom 27.02.1961 hatte der Bundesgerichtshof für einen Anspruch auf Erhöhung einer Enteignungsentschädigung eine Rechtskraftwirkung über den bezifferten Anspruch hinaus angenommen, dies aber unter anderem mit den Besonderheiten des Verfahrens und letztlich damit begründet, dass er das Vorgehen des Klägers im Vorprozess und insbesondere seinen Antrag dahin auffasste, er habe Zahlung – „der ganzen angemessenen vom Gericht festzusetzenden Entschädigung“ verlangt und mit seiner Bezifferung nur die Höhe dieser Entschädigung errechnet (BGHZ 34, 337). Diese zu einem Sonderfall ergangene Entscheidung lässt sich somit nicht verallgemeinern. Sie beruht letztlich darauf, dass der Klageantrag im Vorprozess in bestimmter Weise verstanden und nicht nur ein beziffertes Zahlungsverlangen, sondern „die ganze angemessene vom Gericht festzustellende Entschädigung“ als Streitgegenstand betrachtet wurde (BGHZ 135, 178; ebenso BGH NJW 1994, 3165).

28 Ebenso ist eine Ausnahme zuzulassen, wenn eine nicht bezifferte Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld erhoben wurde, der Kläger also im Vorprozess die Höhe eines Schmerzensgeldanspruchs in das Ermessen des Gerichts stellt. Auch in diesem Fall ist der Klageantrag des Vorprozesses in der Weise zu verstehen, dass der gesamte aus dem zur Anspruchsbegründung vorgetragene Verletzungstatbestand sich ergebende, das Schmerzensgeld begründende Schaden geltend gemacht wird, so dass nach Zuerkennung des angemessenen Schmerzensgeldes in der Regel die Rechtskraft dem Verlangen eines weiteren Schmerzensgeldes aus dem Verletzungsereignis entgegensteht (BGH NJW 1997, 3019; BGHZ 135, 178; NJW 1994, 3165).

29 Eine Ausnahme lässt die Rechtsprechung auch bei Unterhaltsklagen zu. Unterhalt wird regelmäßig in voller Höhe eingeklagt, so dass die Vermutung gegen eine Teilklage spricht. Der allgemeine Satz, dass ein Kläger, der einen bezifferten Anspruch geltend macht, nicht zu erklären braucht, er behalte sich den darüber hinausgehenden Anspruch vor, weil sich dies schon aus der Beschränkung der Rechtskraft auf den Anspruch in der eingeklagten Höhe ergibt, gilt wegen dieser Vermutung und auch im Hinblick auf die Sonderregelung des § 323 ZPO im Unterhaltsprozess nicht. Vielmehr ist hier für die Annahme einer Teilklage zu fordern, dass der Kläger entweder ausdrücklich einen Teilanspruch geltend macht oder sich wenigstens erkennbar eine Nachforderung vorbehält (BGHZ 94, 145; NJW 1994, 3165).

30 Mit ähnlichen auf § 323 ZPO gestützten Erwägungen hat der unter Ziffer I.2 dargelegte Grundsatz eine Ausnahme in anderen Streitfällen erfahren, in denen im Vorprozess wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 258 ZPO auch für die Zukunft geltend gemacht wurden. Nach dem Sinn und Zweck des § 323 ZPO ist nach rechtskräftiger Verurteilung zu wiederkehrenden, sich aus einem bestimmten Rechtsverhältnis ergebenden Leistungen eine Klage auf zusätzliche Leistungen (Zusatz- oder Nachforderungsklage) nur unter den Voraussetzungen und in dem Umfang des § 323 ZPO zulässig. Die Zusatz- oder Nachforderungsklage ist allerdings in den Ausnahmefällen zulässig, in denen in dem Vorprozess die aus dem bestimmten Rechtsverhältnis zu schließenden wiederkehrenden Leistungen nur teilweise eingeklagt waren. Eine solche Teilklage ist jedoch nur dann anzunehmen, wenn im Vorprozess ausdrücklich erklärt oder aus den Umständen zu entnehmen war, dass die in bestimmter Höhe begehrten wiederkehrenden Leistungen nur den Teil einer an sich höheren Forderung darstellen (BGH NJW 1986, 3142; NJW 1994, 3165).

b)

31 Mit diesen durch die Rechtsprechung zugelassenen Ausnahmen ist der hier zu entscheidende Fall nicht vergleichbar. Anders als in den oben zitierten Entscheidungen über eine Enteignungsentschädigung oder über unbezifferte Schmerzensgeldklagen hat die Klägerin im Vorprozess zu diesem Rechtsstreit eine bezifferte Klage auf Zahlung eines Handelsvertreterausgleichs erhoben. Anders als bei Unterhaltsklagen sowie bei Klagen auf wiederkehrende Leistungen greift die Sonderregelung des § 323 ZPO bei Klagen auf Zahlung eines Handelsvertreterausgleichs nicht. Daher verbleibt es bei dem Grundsatz, dass die Rechtskraft nur den geltend gemachten Anspruch im beantragten Umfang ergreift und die Klägerin auch nicht erklären musste, sie behalte sich darüber hinausgehende Ansprüche vor (im Ergebnis ebenso Emde / Graf von Westphalen, ZVertriebsR 2015, 46; vgl. zum Ganzen auch Zöller / Vollkommer, ZPO, 30. Aufl., Vorbemerkung zu § 322 RN 47 ff.).

32 Entgegen der Auffassung des Landgerichts Ulm folgt auch aus dem Umstand, dass gemäß § 89b Abs. 1 Nr. 3 HGB a. F. eine Billigkeitskontrolle vorzunehmen ist, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls einzubeziehen sind, welche für die Bemessung des Ausgleichsanspruchs von Bedeutung sein können, nicht, dass eine Ausnahme von dem unter Ziffer I.2 dargelegten Grundsatz zuzulassen wäre. Insbesondere führt dieser Umstand nicht dazu, dass es sich bei dem Handelsvertreterausgleichsanspruch um einen einheitlichen – nicht teilbaren – Anspruch handele, über den nur einheitlich entschieden werden könne. Vielmehr führt die umfassend durchzuführende Billigkeitskontrolle, in die sämtliche Umstände des Einzelfalls einzubeziehen sind, welche für die Bemessung des Ausgleichsanspruchs von Bedeutung sein können, lediglich dazu, dass die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen im Vorprozess sowie im Nachforderungsverfahren besteht, wenn die Parteien hierzu unterschiedlich vortragen, aufgrund der Beweissituation unterschiedliche Feststellungen getroffen oder von den Gerichten unterschiedliche Bewertungen vorgenommen werden. Diese Gefahr sich widersprechender Entscheidungen bei mehreren Entscheidungen über verschiedene Teile desselben Handelsvertreterausgleichanspruchs besteht jedoch nicht lediglich bei der Billigkeitskontrolle, sondern bei allen Tatbestandsvoraussetzungen des Handelsvertreterausgleichsanspruchs. Die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist allerdings keine Besonderheit bei der Geltendmachung eines Handelsvertreterausgleichanspruchs im Wege verschiedener Teilklagen; vielmehr besteht diese Gefahr stets, wenn derselbe Anspruch im Wege verschiedener Teilklagen in mehreren Prozessen geltend gemacht wird und ist die logische Konsequenz daraus, dass gemäß § 322 Abs. 1 ZPO das Urteil des Vorprozesses lediglich insoweit in materieller Rechtskraft erwächst, als der Anspruch geltend gemacht und über diesen entschieden wurde. Diese Konsequenz wird jedoch von der Rechtsordnung hingenommen. Daher sind auch Teilklagen bei der Geltendmachung eines Handelsvertreterausgleichanspruchs ohne weiteres – und nicht nur, wie vom Landgericht Ulm angenommen, allenfalls unter besonderen Voraussetzungen – zulässig (vgl. auch BGH NJW-RR 1996, 765; OLG Celle, Urteil vom 29.03.2001 – 13 U 53/00 (Kart); OLG München, Urteil vom 19.12.2012 – 7 U 465/12: In allen Entscheidungen wurden Teilklagen auf Zahlung eines Handelsvertreterausgleichs gemäß § 89b HGB ohne weiteres – und somit ohne Begründung – als zulässig erachtet).

c)

33 Entgegen der Auffassung der Beklagten kann aus dem Umstand, dass bei Klagen auf Zahlung eines Handelsvertreterausgleichs der Erlass eines Teilurteils vielfach unzulässig sein wird (OLG München NJW-RR 1992, 1191; Löwisch, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, 3. Aufl. RN 229; Hopt in: Baumbach / Hopt, HGB, 36. Aufl., § 89b RN 83; differenzierend Emde, in: Staub, Handelsgesetzbuch Großkommentar, 5. Aufl., § 89b RN 352; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 24.01.2003 – 16 U 66/02, I 16 U 66/02), nichts für den vorliegenden Rechtsstreit hergeleitet werden. Wird eine „offene“ oder „verdeckte“ Teilklage erhoben, so handelt es sich bei der Entscheidung über die gesamte Teilklage um ein Endurteil i. S. d. § 300 Abs. 1 ZPO, nicht dagegen um ein Teilurteil gemäß § 301 Abs. 1 ZPO. Ein Teilurteil liegt dagegen nur vor, wenn nur über einen Teil des mit der Klage geltend gemachten Streitgegenstands entschieden wird (Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 301 Rn. 1). Somit wurden weder im Vorprozess Teilurteile erlassen noch wäre ein Endurteil über die nun erhobene Nachforderungsklage ein Teilurteil.

34 Aber auch aus der tragenden Begründung der soeben zitierten Entscheidungen sowie der Kommentare, wonach bei Klagen auf Zahlung eines Handelsvertreterausgleichs der Erlass eines Teilurteils vielfach unzulässig sein wird, kann nicht hergeleitet werden, dass die materielle Rechtskraft der Entscheidungen im Vorprozess einer weiteren Nachforderungsklage entgegenstände. Vielmehr wird ein Teilurteil in diesen Fallkonstellationen deshalb vielfach unzulässig sein, weil § 301 Abs. 1 ZPO als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung für den Erlass eines Teilurteils fordert, dass das Teilurteil von der Entscheidung des Rechtsstreits unabhängig ist und keine Gefahr besteht, dass das Teilurteil sowie die abschließende Entscheidung des Rechtsstreits widersprüchlich sind (hierzu Zöller / Vollkommer, a.a.O., § 301 RN 2, 7). Mit dieser Begründung wurde auch durch die von der Beklagten angeführte Entscheidung des Oberlandesgerichts München (NJW-RR 1992, 1191) ein Teilurteil über eine Mindesthöhe eines Handelsvertreterausgleichsanspruch als unzulässig angesehen. Hierbei handelt es sich jedoch um eine besondere Voraussetzung für die Zulässigkeit von Teilurteilen, die unabhängig von der Frage der materiellen Rechtskraft von Teilentscheidungen ist (hierzu Zöller / Vollkommer, a.a.O., Vorbemerkung zu § 322 ZPO, RN 46), so dass hieraus keine Rückschlüsse auf die Zulässigkeit von Nachforderungsklagen gezogen werden können.

II.

35 Der Rechtsstreit war gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 3 ZPO an das Landgericht Ulm zurückzuverweisen.

36 Gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 3 ZPO darf das Berufungsgericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückverweisen, wenn durch das angefochtene Urteil nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden ist und eine Partei die Zurückverweisung beantragt. Das Landgericht Ulm hat lediglich über die Zulässigkeit der Klage entschieden. Die Beklagte hat hilfsweise die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Ulm beantragt. Eine Zurückverweisung erscheint auch sachdienlich, da das Interesse an einer schnelleren Entscheidung gegenüber dem Verlust einer Tatsacheninstanz im vorliegenden Rechtsstreit nicht überwiegt. Hierbei ist auch zu sehen, dass der Sachverhalt weiter aufzuklären sein wird, da der Vortrag der Parteien zum Prognosezeitraum und zur Billigkeit streitig ist und daher neu festzustellen ist. Wie bereits oben aufgezeigt, ist der im Vorprozess festgestellte Sachverhalt und die hierauf gestützte Berechnung des Handelsvertreterausgleichs, soweit über die bezifferte Klage im Vorprozess nicht entschieden wurde, nicht bindend, da die Entscheidungen des Vorprozesses insoweit nicht materiell rechtskräftig sind.

III.

37 Zu dem weiteren Sachvortrag der Parteien ist folgendes anzumerken:

1.

38 Entgegen der Auffassung der Beklagten sind die Voraussetzungen für einen im Vorprozess erfolgten Verzicht der Klägerin auf einen weitergehenden Handelsvertreterausgleichsanspruch nicht dargetan.

39 Ein derartiger Verzicht könnte als materiell-rechtlicher Erlassvertrag im Sinne des § 397 BGB nicht zur Unzulässigkeit einer dennoch erhobenen Mehrforderungsklage, sondern nur zu deren Unbegründetheit führen. An die Feststellung des Verzichtswillens und die Annahme eines stillschweigend geschlossenen Erlassvertrages sind strenge Anforderungen zu stellen (BGH NJW 1997, 3019). Hierfür genügt es weder, dass die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren des Vorprozesses keinen Vorbehalt bezüglich einer etwaigen Nachforderung erklärt hat, sondern sogar einen Teil der Klage zurückgenommen hat, noch dass sie im Berufungsverfahren keine unselbständige Anschlussberufung eingelegt hat, obwohl hierfür – entgegen der Auffassung der Klägerin – keine Beschwer erforderlich gewesen wäre. Die Beklagte hat auch sonst keine Umstände aufgezeigt, die einen Verzicht im Vorprozess begründen könnten, obwohl sie insoweit darlegungs- und beweisbelastet ist (BGH NJW-RR 1992, 1388; Palandt/Grüneberg, BGB, 74. Aufl., § 397 RN 13).

2.

40 Auch eine Verwirkung kann auf diese von der Beklagten vorgetragenen Gesichtspunkte nicht gestützt werden, obwohl auch insoweit die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet ist (Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 242 RN 96).

41 Der Rechtsgedanke der Verwirkung ist ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung aufgrund widersprüchlichen Verhaltens. Danach ist ein Recht verwirkt, wenn der Berechtigte es längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet und nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten auch darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde. Die Annahme einer Verwirkung setzt somit neben dem Zeitablauf das Vorliegen besonderer ein solches Vertrauen des Verpflichteten begründender Umstände voraus (BGH NJW 2006, 219 f.; BGH, Urteil vom 27.01.2010 – XII ZR 22/07).

42 Dabei erscheint bereits zweifelhaft, ob seit der Geltendmachung des Handelsvertreterausgleichsanspruchs mit Schreiben der Klägerin vom 12.08.2010 bis zur Erhebung der hier anhängigen Klage im Dezember 2013 bereits die erste Voraussetzung einer Verwirkung, das „Zeitmoment“ vorläge. Jedenfalls hat die Beklagte keine hinreichenden Umstände aufgezeigt, die die Annahme rechtfertigten, dass sie sich vor Erhebung der Nachforderungsklage darauf eingerichtet habe und nach dem gesamten Verhalten der Klägerin auch darauf habe einrichten dürfen, dass diese in Zukunft keine Nachforderungsklage erheben werde, so dass jedenfalls das „Umstandsmoment“ fehlt. Vielmehr musste die Beklagte bereits während des Vorprozesses damit rechnen, dass die Klägerin ihre Klage erweitert, falls die mit dem Vorprozess befassten Gerichte die Rechtsauffassung äußern, dass aufgrund der vorzunehmenden Berechnung ein höherer Handelsvertreterausgleichsanspruch bestehe als eingeklagt. Auch der Umstand, dass die Klägerin im Berufungsverfahren des Vorprozesses nicht im Wege der unselbständigen Anschlussberufung die Klage erweiterte, nachdem das Landgericht Ulm in seinem erstinstanzlichen Urteil des Vorprozesses dargelegt hatte, dass ein höherer Handelsvertreterausgleichsanspruch als eingeklagt bestehe, führte nicht dazu, dass die Beklagte darauf vertrauen durfte, dass die Klägerin dieses Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde. Vielmehr musste es auch aus Sicht der Beklagten naheliegend erscheinen, dass die Klägerin zunächst abwarten wollte, ob auch das Berufungsgericht die Auffassung des Landgerichts Ulm teilt.

C.

43 Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens war dem erstinstanzlichen Schlussurteil vorzubehalten (Zöller / Heßler, a.a.O., § 538 RN 58). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 (vgl. hierzu Zöller / Heßler, a.a.O., § 538 RN 59). Ein Grund für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegt nicht vor.

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